© Renate Dietrich
Renate Dietrich
Ein leeres Boot am Strand - Leseprobe
Prolog Das über ihm zusammenschlagende Wasser ernüchterte ihn nur für einen Augen- blick. In diesem Moment begriff er, dass er in großer Gefahr war und vielleicht sterben würde. Er schlug mit den Armen um sich und erreichte noch einmal die Oberfläche. Doch bevor er schreien konnte, hatte ihn die Schwere seiner Kleider und der Stiefel zusammen mit den höherschlagenden Wellen wieder nach unten gezogen in die Tiefe der fischigen Finsternis. Automatisch hatte er die Augen geschlossen, um sie vor dem brennenden Salz- wasser zu schützen. Aber dennoch sah er Susan so deutlich, als stünde sie vor ihm und hielte Edith an der Hand, Edith, das kleine Mädchen mit großen erschrockenen Augen. Nun kamen Mutter und Tochter auf ihn zu. Als ob sie ihn retten könnten, wenn sie ihn nur erreichten! Er riss den Mund auf, weil er das mörderische Zerren in der Brust nicht mehr ertragen konnte und schluckte salziges Meerwasser, während sein Körper unterging und sein Bewußtsein in der Dunkelheit versank. Kapitel 1 Es hatte seit Tagen geregnet. Steven hatte nachts die Tropfen gegen die Scheiben trommeln hören, als er, wie so häufig in den letzten Nächten, viel zu lange wach lag, um nicht immer wieder in demselben Albtraum unterzugehen. Gegen fünf war er auf- gestanden und nach draußen gegangen. Über den Bergrücken im Osten hatte sich unterhalb der dichten dunklen Wolken ein Band bläulichrosa Scheins ausgebreitet, bis schließlich in einem überwältigenden Augenblick das Licht der Sonne durchgebrochen war und das Tal, die Berge und das Meer mit silbrigem Leuchten überzogen hatte, als wäre dies der Augenblick der Schöpfung. Als er nach dem Frühstück die große Reisetasche und seine Wanderstiefel in den Kofferraum packte, war die Sonne schon lange wieder hinter den Wolken ver- schwunden, die jetzt so tief hingen, dass er die andere Seite der Bucht nur ahnen konnte. Für einen Augenblick hatte der Regen sich eine Pause gegönnt, aber immer noch durchdrang die feuchte Kühle alles. Er blickte auf die immer noch aufgewühlte Wasserfläche und fühlte wieder die eisige Kälte und das abgrundtiefe Entsetzen. Er verscheuchte die Erinnerung an seinen Albtraum, so gut es ging, und stellte sich lieber vor, dies sei die offene See, wie er sie in seiner Kindheit gekannt hatte. Er erinnerte sich deutlich des seltsam erhabenen Gefühls, als er mit seinem Großvater vor dessen Haus gestanden hatte. Wie der alte Mann damals nach Westen gedeutet und dazu geflüstert hatte „Amerika!“, als gäbe er dem Kind ein großes Geheimnis mit auf den Weg. Ein weiter Weg, dachte Steven, als er sich zum Eingang des Hotels umdrehte, wo Norma stand und ihm schweigend zusah, wie er seine Sachen einpackte. Warum dachte er an sie immer als alte Frau? Als er zum ersten Mal hier ankam, und das war mehr als zehn Jahre her, erschien sie ihm schon alt, obwohl sie nur wenige Jahre trennten. Donnie war damals noch ein halbes Kind gewesen, elf oder zwölf Jahre alt. Ein in sich gekehrter Junge, der seine Zeit gebraucht hatte, um ihn überhaupt einmal direkt anzusprechen. Nach einigen Jahren hatte er geglaubt, einer der ihren geworden zu sein, Teil der Gemeinschaft des Tales. Nur weil sie ihn wiedererkannten, ihn beim Vornamen nannten und ihn an den harmloseren ihrer Unterhaltungen teilnehmen ließen. ‚Ich hätte mich nicht damit zufrieden geben dürfen,‘ dachte Steven. Es hätte nichts geändert. Er hatte Anteil, an dem was geschehen war, aber keine Schuld. So hoffte er. Nun hatte er sich entschieden und nun gehörte er tatsächlich dazu. Selbst wenn er niemals zurückkehren sollte, war er Teil des Netzes geworden, in dem sie alle hingen, um sich gegenseitig zu stützen oder sich auch zu vernichten, falls es nötig wäre. Dabei wusste er doch ganz genau, dass er wiederkommen würde. So bald wie möglich. Susan hatte ihm sogar ein Zuhause angeboten. Wenn er nur keinen zweiten Schritt vor dem ersten machte. Wenn er sie nur nicht mit seinen Gefühlen überforderte. Er könnte hier zuhause sein. Wenn er es nur richtig anstellte. Zehn Jahre lang war er zu Gast gewesen, hatte Jahr für Jahr gesehen, wie die Dinge im Dorf gleichblieben oder sich veränderten. Hatte belustigt zugehört, wenn ihm der neueste Klatsch zugetragen wurde. Hatte mit distanzierter Trauer gehört, wer in der Zwischenzeit gestorben war. Er hatte die wenigen Babys, die in dieser menschenarmen Gegend zur Welt kamen, mit der nötigen Bewunderung zur Kenntnis genommen, um ihre Fortschritte dann von Jahr zu Jahr wie im Zeitraffer wahrzunehmen. Dieses Jahr konnten sie schon laufen. Ein Jahr später sprachen sie schon. Nun gingen sie schon zur Schule. Bald würden sie fortgehen. Die Jahre waren an ihm vorbei geflossen. Er hatte es kaum bemerkt. Als er zum ersten Mal hier eintraf, war Susans Tochter Edith noch ein kleines Kind. Jetzt war sie vierzehn, fast fünfzehn. Man begann sich nach ihr umzusehen, sie würde sicher einmal ebenso schön wie ihre Mutter, sagten die Leute. Sie selbst fand sich allerdings zu groß, zu schlaksig, kein Kind mehr, aber auch noch keine Frau. Sie würde einmal ihrer Mutter ähneln, sagten die Leute. War das gut? Oder war es das, was sie auf keinen Fall werden wollte. An diesem Morgen, als Steven seine Taschen packte, betrachtete Edith sich einmal mehr kritisch im Spiegel. Sie suchte nach Spuren ihres Vaters in ihrem Gesicht. Zum ersten Mal, seit er tot war. Und zum ersten Mal überhaupt. So lange er lebte, hatte sie nicht viel darüber nachgedacht, was sie von ihm haben könnte. Für sie war er nur der Mann, der kam und ging, wie es ihm beliebte. Und wenn er wieder fort war, zu seinen Weibern, wie es hieß, ohne dass sie wirklich verstand, was es bedeutete, mußte man sehr vorsichtig sein. Die Verzweiflung brachte ihre Mutter dazu, ungerecht zu sein und manchmal auch zuzuschlagen, ohne Grund. Edith wußte genau, wie Verzweiflung sich anfühlte. Es gab so viele Arten davon: Der qualvolle Tod eines Tieres, das Unverständnis, das ihr die ganze Welt entgegen zu bringen schien, die unerklärliche Wut ihrer Mutter. Verzweiflung war ein fester Knoten in der Brust, der seit ihrer frühesten Kindheit unauflösbar mit Dunkelheit verknüpft war. Und nun gab es eine weitere Verzweiflung, worüber man selbst mit der Mutter nicht sprechen konnte. Das war, den Griff der harten Hand eines Mannes zu spüren, seinen schweren Atem nahe ihrem Gesicht und nicht entkommen zu können. Wenn es das war, wovon die älteren Mädchen in der Schule flüsterten und dabei rot wurden, so wollte sie lieber nicht erwachsen werden. Seltsamerweise hatte sie sich ihre Mutter und ihren Vater immer als Paar vorstellen können. Vielleicht weil sie sich so ähnlich waren? Weil beide so heftig werden konnten, dass es keine Grenze mehr zu geben schien. Aber nun sollte sie sich ihre Mutter mit Steven vorstellen? Das konnte sie nicht.
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Ein leeres Boot am Strand - Leseprobe
Prolog Das über ihm zusammenschlagende Wasser ernüch- terte ihn nur für einen Augen-blick. In diesem Moment begriff er, dass er in großer Gefahr war und vielleicht sterben würde. Er schlug mit den Armen um sich und er- reichte noch einmal die Oberfläche. Doch bevor er schreien konnte, hatte ihn die Schwere seiner Kleider und der Stiefel zusammen mit den höherschlagenden Wellen wieder nach unten gezogen in die Tiefe der fischigen Finsternis. Automatisch hatte er die Augen geschlossen, um sie vor dem brennenden Salz-wasser zu schützen. Aber dennoch sah er Susan so deutlich, als stünde sie vor ihm und hielte Edith an der Hand, Edith, das kleine Mädchen mit großen erschrockenen Augen. Nun kamen Mutter und Tochter auf ihn zu. Als ob sie ihn retten könnten, wenn sie ihn nur erreichten! Er riss den Mund auf, weil er das mörderische Zerren in der Brust nicht mehr ertragen konnte und schluckte salziges Meerwasser, während sein Körper unterging und sein Bewußtsein in der Dunkelheit versank. Kapitel 1 Es hatte seit Tagen geregnet. Steven hatte nachts die Tropfen gegen die Scheiben trommeln hören, als er, wie so häufig in den letzten Nächten, viel zu lange wach lag, um nicht immer wieder in demselben Albtraum unterzugehen. Gegen fünf war er auf-gestanden und nach draußen gegangen. Über den Bergrücken im Osten hatte sich unterhalb der dichten dunklen Wolken ein Band bläulichrosa Scheins ausgebreitet, bis schließlich in einem überwältigenden Augenblick das Licht der Sonne durch- gebrochen war und das Tal, die Berge und das Meer mit silbrigem Leuchten überzogen hatte, als wäre dies der Augenblick der Schöpfung. Als er nach dem Frühstück die große Reisetasche und seine Wanderstiefel in den Kofferraum packte, war die Sonne schon lange wieder hinter den Wolken ver- schwunden, die jetzt so tief hingen, dass er die andere Seite der Bucht nur ahnen konnte. Für einen Augenblick hatte der Regen sich eine Pause gegönnt, aber immer noch durchdrang die feuchte Kühle alles. Er blickte auf die immer noch aufgewühlte Wasserfläche und fühlte wieder die eisige Kälte und das abgrundtiefe Entsetzen. Er verscheuchte die Erinnerung an seinen Albtraum, so gut es ging, und stellte sich lieber vor, dies sei die offene See, wie er sie in seiner Kindheit gekannt hatte. Er erinnerte sich deutlich des seltsam erhabenen Gefühls, als er mit seinem Großvater vor dessen Haus gestanden hatte. Wie der alte Mann damals nach Westen gedeutet und dazu geflüstert hatte „Amerika!“, als gäbe er dem Kind ein großes Geheimnis mit auf den Weg. Ein weiter Weg, dachte Steven, als er sich zum Eingang des Hotels umdrehte, wo Norma stand und ihm schweigend zusah, wie er seine Sachen einpackte. Warum dachte er an sie immer als alte Frau? Als er zum ersten Mal hier ankam, und das war mehr als zehn Jahre her, erschien sie ihm schon alt, obwohl sie nur wenige Jahre trennten. Donnie war damals noch ein halbes Kind gewesen, elf oder zwölf Jahre alt. Ein in sich gekehrter Junge, der seine Zeit gebraucht hatte, um ihn überhaupt einmal direkt anzusprechen. Nach einigen Jahren hatte er geglaubt, einer der ihren geworden zu sein, Teil der Gemeinschaft des Tales. Nur weil sie ihn wiedererkannten, ihn beim Vornamen nannten und ihn an den harmloseren ihrer Unterhaltungen teilnehmen ließen. ‚Ich hätte mich nicht damit zufrieden geben dürfen,‘ dachte Steven. Es hätte nichts geändert. Er hatte Anteil, an dem was geschehen war, aber keine Schuld. So hoffte er. Nun hatte er sich entschieden und nun gehörte er tatsächlich dazu. Selbst wenn er niemals zurückkehren sollte, war er Teil des Netzes geworden, in dem sie alle hingen, um sich gegenseitig zu stützen oder sich auch zu vernichten, falls es nötig wäre. Dabei wusste er doch ganz genau, dass er wiederkommen würde. So bald wie möglich. Susan hatte ihm sogar ein Zuhause angeboten. Wenn er nur keinen zweiten Schritt vor dem ersten machte. Wenn er sie nur nicht mit seinen Gefühlen überforderte. Er könnte hier zuhause sein. Wenn er es nur richtig anstellte. Zehn Jahre lang war er zu Gast gewesen, hatte Jahr für Jahr gesehen, wie die Dinge im Dorf gleichblieben oder sich veränderten. Hatte belustigt zugehört, wenn ihm der neueste Klatsch zugetragen wurde. Hatte mit distanzierter Trauer gehört, wer in der Zwischenzeit ge- storben war. Er hatte die wenigen Babys, die in dieser menschenarmen Gegend zur Welt kamen, mit der nötigen Bewunderung zur Kenntnis genommen, um ihre Fort- schritte dann von Jahr zu Jahr wie im Zeitraffer wahr- zunehmen. Dieses Jahr konnten sie schon laufen. Ein Jahr später sprachen sie schon. Nun gingen sie schon zur Schule. Bald würden sie fortgehen. Die Jahre waren an ihm vorbei geflossen. Er hatte es kaum bemerkt. Als er zum ersten Mal hier eintraf, war Susans Tochter Edith noch ein kleines Kind. Jetzt war sie vierzehn, fast fünfzehn. Man begann sich nach ihr um- zusehen, sie würde sicher einmal ebenso schön wie ihre Mutter, sagten die Leute. Sie selbst fand sich allerdings zu groß, zu schlaksig, kein Kind mehr, aber auch noch keine Frau. Sie würde einmal ihrer Mutter ähneln, sagten die Leute. War das gut? Oder war es das, was sie auf keinen Fall werden wollte. An diesem Morgen, als Steven seine Taschen packte, betrachtete Edith sich einmal mehr kritisch im Spiegel. Sie suchte nach Spuren ihres Vaters in ihrem Gesicht. Zum ersten Mal, seit er tot war. Und zum ersten Mal überhaupt. So lange er lebte, hatte sie nicht viel darüber nachgedacht, was sie von ihm haben könnte. Für sie war er nur der Mann, der kam und ging, wie es ihm beliebte. Und wenn er wieder fort war, zu seinen Weibern, wie es hieß, ohne dass sie wirklich verstand, was es bedeutete, mußte man sehr vorsichtig sein. Die Verzweiflung brachte ihre Mutter dazu, ungerecht zu sein und manchmal auch zuzuschlagen, ohne Grund. Edith wußte genau, wie Verzweiflung sich anfühlte. Es gab so viele Arten davon: Der qualvolle Tod eines Tieres, das Unverständnis, das ihr die ganze Welt ent- gegen zu bringen schien, die unerklärliche Wut ihrer Mutter. Verzweiflung war ein fester Knoten in der Brust, der seit ihrer frühesten Kindheit unauflösbar mit Dunkelheit verknüpft war. Und nun gab es eine weitere Verzweiflung, worüber man selbst mit der Mutter nicht sprechen konnte. Das war, den Griff der harten Hand eines Mannes zu spüren, seinen schweren Atem nahe ihrem Gesicht und nicht entkommen zu können. Wenn es das war, wovon die älteren Mädchen in der Schule flüsterten und dabei rot wurden, so wollte sie lieber nicht erwachsen werden. Seltsamerweise hatte sie sich ihre Mutter und ihren Vater immer als Paar vorstellen können. Vielleicht weil sie sich so ähnlich waren? Weil beide so heftig werden konnten, dass es keine Grenze mehr zu geben schien. Aber nun sollte sie sich ihre Mutter mit Steven vorstellen? Das konnte sie nicht.