© Renate Dietrich
Renate Dietrich
Die Spur der Finger - Leseprobe
Kapitel 1 Mairi Forbes drehte sich seufzend um und nahm auch noch den Rest ihrer ge- meinsamen Bettdecke mit. Graham wachte fast sofort auf. Es war weniger die plötzliche Kälte als die Abwesenheit des Gefühls von Geborgenheit, das die Nähe ihres Körpers und die Wärme der gemeinsamen Decke ihm verschaffte. Er war viele Wochen unterwegs gewesen, hatte verschiedene Ölbohrplattformen in der Nordsee besucht und war wie immer nach einer langen Abwesenheit fast überwältigt davon, wie glücklich er war, wieder zu Hause und bei Mairi zu sein. Obwohl diese sich für seinen Geschmack immer viel zu schnell daran gewöhnte, das Ehebett und vor allem die Bettdecke für sich alleine zu haben. Behutsam hob er ihren Arm an und zog die Decke soweit heraus, dass sie auch ihn noch bedeckte. Er rückte noch ein wenig näher an sie heran und atmete den Duft ihrer Haare ein. Dann schlief er fast sofort wieder ein und träumte vom Meer. Als er das nächste Mal die Augen aufmachte, war das Bett neben ihm leer. Er spitzte die Ohren. Vielleicht käme sie gleich zurück. Dann würde sie sich an ihn kuscheln und daraus könnte sich allerlei ergeben. Er war schließlich eine Weile auf hoher See gewesen, beschränkt auf die Gesellschaft rauer Männer, für die Frauen ein Thema ganz besonderer Art war. Er grinste. Für die war er doch nur ein Macker aus den oberen Etagen. Die hüteten ihre Zunge so gut sie konnten, solange er in der Nähe war. Aber er bekam trotzdem noch genug mit. Dann hörte er ihre Stimme. Sie telefonierte. Das bedeutete nichts Gutes. Sie hatte ihm ein freies Wochenende versprochen. Hoch und heilig. Aber er wusste aus Erfahrung, wie schnell ein Notfall ihr einen Strich durch ihre kostbare gemeinsame Zeit machen konnte. Seine Frau war Polizistin. Er war stolz auf sie und bewunderte sie für den Job, den sie machte. Sie war mit Leib und Seele dabei und hatte es vor kurzem zum Chief Inspector gebracht. Er fand, dass alles, was an ihr sowieso schon attraktiv war, noch ein bisschen attraktiver wurde, weil diese junge Frau mit den blitzenden Augen und der fröhlichen Stimme bereits Verbrecher zur Strecke gebracht hatte, vor denen sich sogar ältere, abgebrühtere Kollegen in Acht genommen hatten. Er schwang sich aus dem Bett und griff nach seinem alten ausgeleierten Lieblings- pullover, den er über den Pyjama zog. Mairi hatte ihm zu Weihnachten einen wunder- baren gesteppten Morgenmantel geschenkt, um ihn dazu zu bringen, sich besser anzuziehen, aber er wollte gar nicht seriöser erscheinen. Wenn ihn ein zufällig Vorbeigehender entdeckte, sah er in dem alten Pullover halbwegs angezogen aus, nicht wie ein Idiot, der als Lord verkleidet herumstolzierte. Wenigstens redete er es sich selbst ein. Sie wohnten in einem jener typischen Reihenhäuser, die man in jeder britischen Stadt finden konnte. Ihr Haus unterschied sich von den Nachbarhäusern höchstens durch die Farbe der Haustüre und die Vorhänge im Wohnzimmer. Wie viele moderne Hausbesitzer hatten sie die Wand zwischen Esszimmer und Küche durchbrochen und damit einen langen, offenen Raum geschaffen, der sein Licht sowohl von der Straße aus, als auch von der Gartenseite bekam. Und genau das führte dazu, dass Vorübergehende ihn öfter im Pyjama und seinem Lieblingspullover erwischen konnten, denn dies war der Raum, in dem sich ihr alltägliches Leben abspielte. Er hätte lieber ein bisschen weiter draußen gewohnt. Da, wo nicht jeder Vorüber- gehende sofort durch das ganze Haus sehen konnte. Mit einem größeren Garten, vielleicht sogar mit einer längeren Zufahrt, die nur die benutzen, die tatsächlich zu ihm wollten. Er träumte manchmal von dem Schutz hoher Bäume oder von einem Ausblick über ein weites Meer. Aber das waren nur Träume. Seine Frau musste jederzeit abrufbar sein. Ihr den kürzest möglichen Weg zu ermöglichen, war seine Pflicht, auch wenn es bedeutete, in einem Reihenhaus am Leben der Nachbarn mehr teilzunehmen, als ihn eigentlich interessierte, und sich um die drei Büsche in dem winzigen Garten hinter ihrem Haus zu kümmern Nun fand er seine Frau in ihrem Wohnzimmer, Küche und Esszimmer in einem Raum vereint, das Telefon zwischen Schulter und Ohr eingeklemmt, während sie auf einem der zwei Hocker an der Frühstücksbar saß und sich Notizen machte. Sie schenkte ihm ein süßes Lächeln, mit mehr als einer Spur von Bedauern darin. „Ich wiederhole“, sagte sie gerade, „A wie Alpha, U wie Uniform, L wie Lima, T wie Tango, B wie Bravo, E wie Echo, A wie Alpha. Und wie spricht man das jetzt aus? Aultbea… Ja, ist auch egal. Ich werde es finden. Und ihr schickt mir den Rest per Email? Okay. Sobald ich es durchgesehen habe, melde ich mich … Nein. Ist schon in Ordnung.“ Sie beendete das Gespräch und runzelte die Stirn. Er vermutete, dass sie gerade angestrengt darüber nachdachte, wie sie ihm die bittere Pille versüßen könnte. „Ein dringender Fall?“, erbarmte er sich schließlich. Sie war über ein ausgefallenes Wochenende sicher genauso traurig wie er. „Eine seltsame Geschichte“, murmelte sie, als wäre sie schon weit weg. Am Tatort. Unter ihresgleichen. Mit Spurensuche beschäftigt. „Da ist eine Touristin gestorben. In einem gottverlassenen Kaff an der Westküste. Erst ist ihr schlecht geworden, dann ist sie zusammengebrochen. Man hat sie noch ins Krankenhaus nach Inverness gebracht, aber sie ist kurz nach der Einlieferung an Leberversagen gestorben. Ganz routinemäßig haben sie eine Autopsie angeordnet, weil es für die Verstorbene ja keine medizinische oder sonstige dokumentierte Vorgeschichte in diesem Land gab. Außerdem hatte ihr Mann ausgesagt, sie sei eigentlich immer gesund gewesen. Und jetzt stellt sich heraus, dass die Frau vergiftet wurde. Und in Inverness haben sie im Moment niemanden, der den Fall übernehmen könnte. Deshalb sollen wir einspringen.“ „Und deshalb musst du jetzt sofort da hin?“ Sie sah ihn an, als ob sie sich erst an ihn und ihr Versprechen erinnern müsste. Dann lachte sie: „Nein. Keine Angst. Das Wochenende bleibt uns schon. Aber ich werde mir anschauen müssen, was sie mir gemailt haben. Und ich werde ein paar Mal tele- fonieren müssen. Es scheint etwas komplizierter zu sein.“ „Weißt du etwas über den grünen Knollenblätterpilz?“, fragte sie während des Sonntagsfrühstücks und rührte geistesabwesend mit einem Stück Toast in ihrem Spiegelei herum. „Falls du beabsichtigst, mir einen vorzusetzen, mache ich mich besser gleich davon. Die sind nämlich verdammt giftig.“ Er hatte seinen beruflichen Weg als Bio- chemiker begonnen, ehe er im Ölgeschäft gelandet war. Reste seiner damals erwor- benen Kenntnisse kamen ihnen manchmal noch zugute. „Eine solche Absicht habe ich nicht. Noch nicht!“ Sie lachte. „Aber das scheint es zu sein, was diese Frau zu sich genommen hat.“ „Und es steht fest, dass es kein Unfall war?“ „Hier steht, dass man diese Pilze im Herbst findet: so ab September bis Novem- ber. Jetzt ist Juni. Also frisch gepflückt konnten die nicht sein.“ „Da hat wohl jemand rechtzeitig einen Vorrat angelegt. War es der Ehemann?“ „Daran denkt man wohl immer zuerst. Obwohl Gift eher als typisch weibliche Waffe gilt. Aber ich frage mich, wie das funktionieren soll. Diese Leute waren auf Urlaub, haben in Bed-and-Breakfasts oder Hotels übernachtet, meist in Restaurants gegessen oder mal Brot, Käse, Tomate gekauft und dann Picknick gemacht. Ich frage mich, wie er da getrocknete Pilze in irgendwas gemischt haben könnte.“ „Kann man nicht am Mageninhalt feststellen, wo und wann sie was zu sich genommen hat?“ „Das ist ja das Teuflische. Hier ist das vorläufige Statement des naturwissenschaft- lichen Dienstes: Von grünen Knollenblätterpilzen wird einem nach acht bis zwölf Stunden erst mal schlecht, aber das geht vorbei. Nach fünf Tagen versagt dann die Leber, spätestens nach zehn Tagen ist man tot. Wir müssen also feststellen, was die Frau vor zehn Tagen gegessen hat, nicht, was sie kurz vor ihrem Tod zu sich ge- nommen hat.“ „Und die Leute waren in dieser Zeit unterwegs?“ „Ja. Drei Wochen Rundreise mit dem Auto. Ohne Plan. Nach Lust und Laune. Und Wetter. Der Ehemann hilft der Polizei bei ihren Ermittlungen. Wir werden mit ihm anfangen müssen.“ „Und den triffst du in Inverness? Das ist ja nicht so schlimm.“ „Nein. Sie haben ihn nach diesem Aultbea zurückkehren lassen. Ihr Gepäck und ihr Auto ist noch dort. Und die Wirtin von dem Bed&Breakfast scheint ihn in ihre Arme benommen zu haben, im übertragenen Sinne natürlich. Sie versucht, es ihm so leicht wie möglich zu machen. Also sitzt er noch da und trauert.“ „Das heißt, Du musst doch an die Westküste? Herausfinden, wo und von wem sie vergiftet worden ist?“ „Wenigstens gibt es ein gewisses Zeitfenster. Höchstens drei, vier Tage, die in Frage kommen, wenn man zurückrechnet. Aber es ist der Wilde Westen! Die Kollegen dort kümmern sich um besoffene Autofahrer und totgefahrene Rehböcke. Wenn sie sich nicht gerade im Schafstall vergnügen oder dem Regen beim Regnen zuschauen.“ „Schottin, wo bleibt dein Nationalstolz? Die Highlands sind immerhin der bedeutendste Teil von Schottland. Unser Alleinstellungsmerkmal! Und nichts gegen unsere tapferen, bodenständigen Highlander! Die mit Kilt rumlaufen und mit Baum- stämmen um sich werfen. Ohne die kämen schließlich die Touristen nicht weiter als bis nach Edinburgh.“ „Und ließen sich nicht von Pilzen vergiften, so dass ich an die Westküste muss. Und damit alles noch ein bisschen amüsanter wird, darf ich Detective Sergeant Buchan mitnehmen. Unseren Mann fürs Grobe!“ DS Buchan war einer der Kollegen, die sich auf der Karriereleiter nur sehr gemächlich nach oben bewegten, weil sie sich aus Trägheit oder Eigenwilligkeit immer wieder selbst ein Bein stellten. Chief Inspector Mairi Forbes hatte nichts gegen Eigen- willigkeit, wenn diese kreativ war und zu Ergebnissen führte. DS Buchans Eigenwillig- keit war aber nicht nur von dieser Art. Meist war es eine tiefe Zufriedenheit mit sich selbst, gewürzt mit einer gesunden Prise Frauenverachtung. Allein die Vorstellung, auf einer stundenlangen Fahrt nach Westen diesem Kerl im Auto ausgeliefert zu sein, verdarb Mairi jede Freude auf das, was ihr Mann spöttisch ihren Abenteuerurlaub nannte.
© Renate Dietrich
Renate Dietrich
Die Spur der Finger - Leseprobe
Kapitel 1 Mairi Forbes drehte sich seufzend um und nahm auch noch den Rest ihrer gemeinsamen Bettdecke mit. Graham wachte fast sofort auf. Es war weniger die plötzliche Kälte als die Abwesenheit des Gefühls von Geborgenheit, das die Nähe ihres Körpers und die Wärme der gemeinsamen Decke ihm verschaffte. Er war viele Wochen unterwegs gewesen, hatte verschiedene Ölbohrplattformen in der Nordsee besucht und war wie immer nach einer langen Abwesenheit fast überwältigt davon, wie glücklich er war, wieder zu Hause und bei Mairi zu sein. Obwohl diese sich für seinen Geschmack immer viel zu schnell daran gewöhnte, das Ehebett und vor allem die Bettdecke für sich alleine zu haben. Behutsam hob er ihren Arm an und zog die Decke soweit heraus, dass sie auch ihn noch bedeckte. Er rückte noch ein wenig näher an sie heran und atmete den Duft ihrer Haare ein. Dann schlief er fast sofort wieder ein und träumte vom Meer. Als er das nächste Mal die Augen aufmachte, war das Bett neben ihm leer. Er spitzte die Ohren. Vielleicht käme sie gleich zurück. Dann würde sie sich an ihn kuscheln und daraus könnte sich allerlei ergeben. Er war schließlich eine Weile auf hoher See gewesen, be- schränkt auf die Gesellschaft rauer Männer, für die Frauen ein Thema ganz besonderer Art war. Er grinste. Für die war er doch nur ein Macker aus den oberen Etagen. Die hüteten ihre Zunge so gut sie konnten, solange er in der Nähe war. Aber er bekam trotzdem noch genug mit. Dann hörte er ihre Stimme. Sie telefonierte. Das bedeutete nichts Gutes. Sie hatte ihm ein freies Wochenende versprochen. Hoch und heilig. Aber er wusste aus Erfahrung, wie schnell ein Notfall ihr einen Strich durch ihre kostbare gemeinsame Zeit machen konnte. Seine Frau war Polizistin. Er war stolz auf sie und bewunderte sie für den Job, den sie machte. Sie war mit Leib und Seele dabei und hatte es vor kurzem zum Chief Inspector gebracht. Er fand, dass alles, was an ihr sowieso schon attraktiv war, noch ein bisschen attraktiver wurde, weil diese junge Frau mit den blitzenden Augen und der fröhlichen Stimme bereits Verbrecher zur Strecke gebracht hatte, vor denen sich sogar ältere, abgebrühtere Kollegen in Acht genommen hatten. Er schwang sich aus dem Bett und griff nach seinem alten ausgeleierten Lieblingspullover, den er über den Pyjama zog. Mairi hatte ihm zu Weihnachten einen wun- derbaren gesteppten Morgenmantel geschenkt, um ihn dazu zu bringen, sich besser anzuziehen, aber er wollte gar nicht seriöser erscheinen. Wenn ihn ein zufällig Vor- beigehender entdeckte, sah er in dem alten Pullover halb- wegs angezogen aus, nicht wie ein Idiot, der als Lord ver- kleidet herumstolzierte. Wenigstens redete er es sich selbst ein. Sie wohnten in einem jener typischen Reihenhäuser, die man in jeder britischen Stadt finden konnte. Ihr Haus unterschied sich von den Nachbarhäusern höchstens durch die Farbe der Haustüre und die Vorhänge im Wohnzimmer. Wie viele moderne Hausbesitzer hatten sie die Wand zwischen Esszimmer und Küche durchbrochen und damit einen langen, offenen Raum geschaffen, der sein Licht sowohl von der Straße aus, als auch von der Gartenseite bekam. Und genau das führte dazu, dass Vorübergehende ihn öfter im Pyjama und seinem Lieb- lingspullover erwischen konnten, denn dies war der Raum, in dem sich ihr alltägliches Leben abspielte. Er hätte lieber ein bisschen weiter draußen gewohnt. Da, wo nicht jeder Vorübergehende sofort durch das ganze Haus sehen konnte. Mit einem größeren Garten, vielleicht sogar mit einer längeren Zufahrt, die nur die benutzen, die tatsächlich zu ihm wollten. Er träumte manchmal von dem Schutz hoher Bäume oder von einem Ausblick über ein weites Meer. Aber das waren nur Träume. Seine Frau musste jederzeit abrufbar sein. Ihr den kürzest möglichen Weg zu ermöglichen, war seine Pflicht, auch wenn es bedeutete, in einem Reihenhaus am Leben der Nachbarn mehr teilzunehmen, als ihn eigentlich interessierte, und sich um die drei Büsche in dem winzigen Garten hinter ihrem Haus zu kümmern Nun fand er seine Frau in ihrem Wohnzimmer, Küche und Esszimmer in einem Raum vereint, das Telefon zwischen Schulter und Ohr eingeklemmt, während sie auf einem der zwei Hocker an der Frühstücksbar saß und sich Notizen machte. Sie schenkte ihm ein süßes Lächeln, mit mehr als einer Spur von Bedauern darin. „Ich wiederhole“, sagte sie gerade, „A wie Alpha, U wie Uniform, L wie Lima, T wie Tango, B wie Bravo, E wie Echo, A wie Alpha. Und wie spricht man das jetzt aus? Aultbea… Ja, ist auch egal. Ich werde es finden. Und ihr schickt mir den Rest per Email? Okay. Sobald ich es durchgesehen habe, melde ich mich Nein. Ist schon in Ordnung.“ Sie beendete das Gespräch und runzelte die Stirn. Er vermutete, dass sie gerade angestrengt darüber nachdachte, wie sie ihm die bittere Pille versüßen könnte. „Ein dringender Fall?“, erbarmte er sich schließlich. Sie war über ein ausgefallenes Wochenende sicher genauso traurig wie er. „Eine seltsame Geschichte“, murmelte sie, als wäre sie schon weit weg. Am Tatort. Unter ihresgleichen. Mit Spurensuche beschäftigt. „Da ist eine Touristin gestorben. In einem gottverlassenen Kaff an der Westküste. Erst ist ihr schlecht geworden, dann ist sie zusammengebrochen. Man hat sie noch ins Krankenhaus nach Inverness gebracht, aber sie ist kurz nach der Einlieferung an Leberversagen gestorben. Ganz routinemäßig haben sie eine Autopsie angeordnet, weil es für die Verstorbene ja keine medizinische oder sonstige dokumentierte Vor- geschichte in diesem Land gab. Außerdem hatte ihr Mann ausgesagt, sie sei eigentlich immer gesund gewesen. Und jetzt stellt sich heraus, dass die Frau vergiftet wurde. Und in Inverness haben sie im Moment niemanden, der den Fall übernehmen könnte. Deshalb sollen wir einspringen.“ „Und deshalb musst du jetzt sofort da hin?“ Sie sah ihn an, als ob sie sich erst an ihn und ihr Versprechen erinnern müsste. Dann lachte sie: „Nein. Keine Angst. Das Wochenende bleibt uns schon. Aber ich werde mir anschauen müssen, was sie mir gemailt haben. Und ich werde ein paar Mal telefonieren müssen. Es scheint etwas komplizierter zu sein.“ „Weißt du etwas über den grünen Knollenblätter- pilz?“, fragte sie während des Sonntagsfrühstücks und rührte geistesabwesend mit einem Stück Toast in ihrem Spiegelei herum. „Falls du beabsichtigst, mir einen vorzusetzen, mache ich mich besser gleich davon. Die sind nämlich verdammt giftig.“ Er hatte seinen beruflichen Weg als Bio- chemiker begonnen, ehe er im Ölgeschäft gelandet war. Reste seiner damals erworbenen Kenntnisse kamen ihnen manchmal noch zugute. „Eine solche Absicht habe ich nicht. Noch nicht!“ Sie lachte. „Aber das scheint es zu sein, was diese Frau zu sich genommen hat.“ „Und es steht fest, dass es kein Unfall war?“ „Hier steht, dass man diese Pilze im Herbst findet: so ab September bis November. Jetzt ist Juni. Also frisch gepflückt konnten die nicht sein.“ „Da hat wohl jemand rechtzeitig einen Vorrat angelegt. War es der Ehemann?“ „Daran denkt man wohl immer zuerst. Obwohl Gift eher als typisch weibliche Waffe gilt. Aber ich frage mich, wie das funktionieren soll. Diese Leute waren auf Urlaub, haben in Bed-and-Breakfasts oder Hotels übernachtet, meist in Restaurants gegessen oder mal Brot, Käse, Tomate gekauft und dann Picknick gemacht. Ich frage mich, wie er da getrocknete Pilze in irgendwas gemischt haben könnte.“ „Kann man nicht am Mageninhalt feststellen, wo und wann sie was zu sich genommen hat?“ „Das ist ja das Teuflische. Hier ist das vorläufige Statement des naturwissenschaftlichen Dienstes: Von grünen Knollenblätterpilzen wird einem nach acht bis zwölf Stunden erst mal schlecht, aber das geht vorbei. Nach fünf Tagen versagt dann die Leber, spätestens nach zehn Tagen ist man tot. Wir müssen also feststellen, was die Frau vor zehn Tagen gegessen hat, nicht, was sie kurz vor ihrem Tod zu sich genommen hat.“ „Und die Leute waren in dieser Zeit unterwegs?“ „Ja. Drei Wochen Rundreise mit dem Auto. Ohne Plan. Nach Lust und Laune. Und Wetter. Der Ehemann hilft der Polizei bei ihren Ermittlungen. Wir werden mit ihm anfangen müssen.“ „Und den triffst du in Inverness? Das ist ja nicht so schlimm.“ „Nein. Sie haben ihn nach diesem Aultbea zurück- kehren lassen. Ihr Gepäck und ihr Auto ist noch dort. Und die Wirtin von dem Bed&Breakfast scheint ihn in ihre Arme benommen zu haben, im übertragenen Sinne natürlich. Sie versucht, es ihm so leicht wie möglich zu machen. Also sitzt er noch da und trauert.“ „Das heißt, Du musst doch an die Westküste? Herausfinden, wo und von wem sie vergiftet worden ist?“ „Wenigstens gibt es ein gewisses Zeitfenster. Höchstens drei, vier Tage, die in Frage kommen, wenn man zurückrechnet. Aber es ist der Wilde Westen! Die Kollegen dort kümmern sich um besoffene Autofahrer und totgefahrene Rehböcke. Wenn sie sich nicht gerade im Schafstall vergnügen oder dem Regen beim Regnen zuschauen.“ „Schottin, wo bleibt dein Nationalstolz? Die High- lands sind immerhin der bedeutendste Teil von Schott- land. Unser Alleinstellungsmerkmal! Und nichts gegen unsere tapferen, bodenständigen Highlander! Die mit Kilt rumlaufen und mit Baumstämmen um sich werfen. Ohne die kämen schließlich die Touristen nicht weiter als bis nach Edinburgh.“ „Und ließen sich nicht von Pilzen vergiften, sodass ich an die Westküste muss. Und damit alles noch ein bisschen amüsanter wird, darf ich Detective Sergeant Buchan mitnehmen. Unseren Mann fürs Grobe!“ DS Buchan war einer der Kollegen, die sich auf der Karriereleiter nur sehr gemächlich nach oben bewegten, weil sie sich aus Trägheit oder Eigenwilligkeit immer wieder selbst ein Bein stellten. Chief Inspector Mairi Forbes hatte nichts gegen Eigenwilligkeit, wenn diese kreative war und zu Ergebnissen führte. DS Buchans Eigenwilligkeit war aber nicht nur von dieser Art. Meist war es eine tiefe Zufriedenheit mit sich selbst, gewürzt mit einer gesunden Prise Frauenverachtung. Allein die Vor- stellung, auf einer stundenlangen Fahrt nach Westen diesem Kerl im Auto ausgeliefert zu sein, verdarb Mairi jede Freude auf das, was ihr Mann spöttisch ihren Abenteuerurlaub nannte.