Renate Dietrich
© Renate Dietrich
Das Wohlrosenhaus - Leseprobe
1. Kapitel Dateiname: BeTa.doc Kennwort: ●●●●●● Heute war ich in dem allermerkwürdigsten Haus und habe dort die seltsamsten Menschen getroffen... Das Gartentor hätte eigentlich quietschen müssen. Es war uralt, eingewachsen und verrostet. Bettina war überrascht, dass es sich überhaupt aufstoßen ließ, aber es öffnete sich, ohne dass sie hätte drücken müssen, lautlos und wie von selbst. Sie hatte den Vorgarten fast durchquert, als ihr bewusst wurde, dass sie sich tatsächlich auf fremdem Grund befand und es dafür eigentlich keine Entschuldigung gab. Das Haus jedoch lächelte ihr erwartungsvoll entgegen, und deshalb drehte sie sich nicht um, dachte nicht an Umkehr, sondern ging weiter auf das Haus zu, gespannt, was wohl passieren würde, wenn sie die Haustür erreichte. Dass in diesem Garten überhaupt ein Haus stand, hatte sie heute zum ersten Mal bewusst wahrgenommen. Das wollte etwas heißen, denn sie hatte ihr ganzes Leben nur ein paar Straßen weiter verbracht und war sicherlich schon hundertmal hier vorbeigekommen. So wie sie sich erinnerte, hatten immer Äste alter Bäume über die Mauer gehangen und das verrostete Gartentor war, seit sie denken konnte, durch eine massive Kette und ein Schloss gesichert gewesen. Hatte man endlich die Kette abgenommen und die Bäume zurückgeschnitten? Sie sah sich um, aber der Garten schien genauso verwildert, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Als sie sich wieder dem Haus zuwandte, war ihr, als bewegte sich hinter einer Scheibe im ersten Stock eine Gardine. Als hätte jemand herausgeschaut und bei ihrem Anblick den Vorhang sofort wieder fallen lassen. ‚Nun kommt sicher gleich einer raus und meckert mich an.‘ dachte Bettina ernüchtert. ‘Dann werde ich einfach sagen, ich hätte mich in der Hausnummer geirrt… und abhauen.‘ Aber nichts geschah. Keiner kam, keiner schimpfte und das Haus selbst sah weiterhin aus, als lade es sie ein, doch näher zu treten. Es war wirklich ein schönes Haus, mit wohlausgewogenen klassischen Proportionen und einem geschwungenen Dach. Und obwohl die Spuren der Vernachlässigung unübersehbar waren, schien es in keiner Weise baufällig zu sein. Die Sprossenfenster schienen alle dicht zu sein, keine Scheibe war zerbrochen, und der Verputz war zwar im Laufe der Jahre grau geworden, es gab aber nur wenige Stelle, an denen er abgeblättert war. ‚Wenn man das renovieren könnte! Das wäre cool!‘ Bettina wusste genau, dass ein solcher Traum für alle Zeit ein Traum bleiben würde. Sie lebte mit ihrer Mutter und ihrem Opa in einer Dreizimmerwohnung, in der es so beengt zuging, dass zum Beispiel für die Benutzung des Bades verbindliche Verabredungen getroffen und dann auch eingehalten werden mussten, und sie nur dann Übernachtungsbesuch empfangen konnten, wenn der bereit war, das Bett mit einem seiner Gastgeber zu teilen. Selbst für ihren Vater, der ab und zu am Familienhorizont auf- und wieder abtauchte, gab es bei ihnen keinen Platz. Bettina hätte manchmal gern ein wenig mehr "Vater" gehabt, aber im Allgemeinen hatte sie nicht das Gefühl, zu kurz gekommen zu sein. Jedenfalls nicht mehr als jeder in ihrem Alter, wo man ganz selbstverständlich davon ausgeht, dass einem das Leben noch etwas schuldig ist. Sie hatte die Haustür erreicht, eine mächtige Holztür mit zwei Flügeln, deren auf Augenhöhe eingelassenen Fensterchen so schmutzig waren, dass man dahinter nur einen hellen Schein wahrnehmen konnte. Da, wo sich bei einer modernen Tür ein Knauf mit Sicherheitsschloss befunden hätte, gab es hier eine altmodisch verzierte Klinke und darunter ein riesiges Schlüsselloch, in das nur ein ebenso riesiger Schlüssel passen würde. ‚Na, den möchte ich nicht um den Hals gehängt haben!‘ Bettina wusste, wovon sie sprach. Was hatte ihre Mutter doch gesagt, als sie ihr zum ersten Mal einen eigenen Schlüssel an einem Band über den Kopf gezogen hatte? „Damit Du ihn nicht ständig suchst, mein Träumerle!“ Sie rief sich zur Ordnung. Probeweise legte sie die Hand auf die Klinke. Mit einem Knarren, das einer so alten Türe würdig war, schwang der Türflügel sofort auf. Bettina zuckte noch nicht einmal zurück. Seit sie den Garten betreten hatte, war ihr, als ob sie hier eintreten musste, und dass zu widerstehen, einfach keinen Sinn machte. So tat sie beherzt den Schritt in die Halle, die sich über zwei Stockwerke erstreckte, und deren Helligkeit von einem prächtigen Bleiglasfenster im ersten Stock herrührte, das auf den schwarz-weißen Fliesen farbige Muster zeichneten. An der Wand befand sich eine Garderobe aus dunklem, poliertem Holz, in die ein reichlich verblichener Spiegel eingelassen war. An den Haken hingen einige Mäntel und auf einem Schuhrost standen zwei Paar Schnürstiefel. Von der Halle führte eine zentrale Treppe nach oben auf eine Galerie, von der, ebenso wie aus der Eingangshalle, mehrere Türen abgingen. Direkt ihr gegenüber öffnete sich plötzlich eine dieser Türen und eine junge Frau trat heraus. Sie trug ein langes, dunkles Kleid mit einem weißen Schürzchen und hatte ein weißes Häubchen auf dem Kopf. Sie musterte Bettina mit milder Überraschung, dann vollzog sie einen kleinen Knicks und sagte: „Oh, Fräulein Isabella! Man wartet im Garten auf Sie. Es ist bereits serviert.“ Sie öffnete die Tür noch ein Stückchen weiter und trat zur Seite, um Bettina durchzulassen. „Entschuldigung!“ Bettina war verwirrt, „Ich bin aber nicht Isabella. Ich heiße Bettina. Ich bin nur zufällig hier reingekommen. Die Tür stand nämlich offen.“ Sie deutete auf die Haustür, die sich, ohne dass sie es bemerkt hatte, lautlos hinter ihr geschlossen hatte. „Wie Sie wünschen, mein Fräulein!“ Ein bisschen schnippisch zuckte die andere mit den Schultern, deutete noch einmal einen Knicks an und verschwand dann durch eine weitere Tür, die sie hörbar hinter sich zu fallen ließ. Die Tür, auf die die junge Frau gewiesen hatte, stand immer noch offen. Neugierig betrat Bettina den dahinter liegenden altmodisch eingerichteten Salon. Zwei Sofas und einige Sessel waren im Halbrund angeordnet, an den Seiten standen wuchtige Möbel, Schränke oder Anrichten, auch hingen einige Gemälde in aufwendigen goldenen Rahmen an den Wänden. Durch die offene Terrassentür sah man in den Garten hinaus. Dieser Teil des Gartens, der von der Straße aus nicht zu sehen war, war völlig anders als der verwilderte Vorgarten. Hier war der Rasen gepflegt, Blumen und Stauden standen akkurat in ihren Beeten und Bäume spendeten dort Schatten, wo es angenehm war. Denn das Erstaunlichste war: plötzlich schien die Sonne! Der Tag war bisher eher grau und regnerisch gewesen. Die Wolken mussten sich, während sie die Halle durchquert hatte, endlich verzogen haben. Vorsichtig bewegte sich Bettina durch den Raum bis zur Terrassentür. Sie liebte Gärten, seit sie klein war. Sie hatte oft sehnsuchtsvoll durch die Zäune in anderer Leute Gärten geschaut und sich gewünscht, sie könnte einfach durch die Maschen schlüpfen und sich auf dem Gras ausstrecken. Im Schatten der Bäume stand ein Tisch, der unter einer leuchtend weißen Tischdecke nahezu verschwand, und der mit allem gedeckt schien, was zu einer Teegesellschaft gehörte. Um den Tisch herum saßen ein paar Leute, deren Kleidung Bettina ebenso altmodisch und seltsam erschien, wie die der jungen Frau, die sie hatte in den Garten schicken wollen. Diese Leute unterhielten sich, aber plötzlich bemerkte man sie und die Unterhaltung brach ab. Ein Mann erhob sich und kam direkt auf sie zu. Er war trotz des schönen Wetters formell gekleidet, er trug sogar eine Weste unter dem Jackett. Sein Alter schätzte sie auf vierzig, er war nicht sehr groß und sein Aussehen fand sie eher durchschnittlich. Was ihr jedoch sofort auffiel, waren seine leuchtenden Augen und ein selbstbewusster, aber auch verschmitzter Zug um den Mund. Er erschien ihr wie jemand, der einem durchaus Respekt einflößen könnte, aber niemals Angst. Tatsächlich lächelte der Mann herzlich, streckte ihr die Hand entgegen und sagte: „Wie schön, Isabella, dass du doch noch herunter gekommen bist. Wir haben schon begonnen, weil wir wussten, dass wir nicht auf dich warten sollen, aber du wirst feststellen, dass der Tee noch heiß ist, und es sind auch noch ein paar von den kleinen Törtchen da, die du so gern magst.“ „Ich bin nicht Isabella,“ brachte Bettina stotternd heraus. „Es tut mir leid, einfach so rein zu platzen. Ich heiße Bettina Wohler und ich bin nur hier, weil die Haustür aufstand. Das habe ich da drinnen der anderen Frau auch schon gesagt.“ Der Mann lächelte nur verständnisvoll, nahm ihren Arm und führte sie fürsorglich, aber bestimmt zu Tisch. „Hier haben wir nun eine Bettina! Bettina Wohler!“ stellte er sie mit einem Lachen in der Stimme den um den Tisch Versammelten vor. „Ach, Isabella! Was soll das nun schon wieder?“ Die Frau, die sie so ansprach, erinnerte Bettina an eine wenig beliebte Lehrerin. Sie war noch nicht alt, hatte aber bereits gewisse Züge, die sich im Alter nur noch unangenehm verstärken würden, wie eine spitze Nase und ein energisches, etwas zu grobes Kinn. Was diese Schönheitsfehler allerdings aufwog, waren ihre wunderbar dichten, schwarzen Haare, die in Bändern um ihren Kopf lagen und sich schließlich zu einer wirklichen Krone auftürmten. ‚Wenn das ihre eigenen sind,‘ dachte Bettina, ‚dann ist das die prächtigsten Haare, die ich je gesehen habe.‘ Unwillkürlich strich sie sich über den Kopf. Sie konnte wohlwollend als aschblond bezeichnet werden, sie fand ihre Haarfarbe jedoch vor allem fade. Außerdem waren ihre Haare so fein, dass es sich schlecht dafür eignete, so lang getragen zu werden, wie es angesagt war, und wie sie es auch unbedingt tragen wollte. „Nun nimm doch Platz und lass dir Tee einschenken!“ Dieselbe Frau wies auf einen der unbesetzten Stühle und Bettina setzte sich, weil ihr nichts Besseres einfiel, und auch ein bisschen, weil sie plötzlich richtigen Heißhunger auf Tee und Törtchen hatte. Während sie von dem Kuchenstück abbiss, hatte sie Gelegenheit, die zu studieren, die sich um den Tisch versammelt hatten. Ihr gegenüber, da, wo die Schatten am tiefsten waren, thronte eine alte, weißhaarige Dame, deren schöner, schmaler Kopf auf dem hohen Kragen zu ruhen schien, der ihren Hals eng umschloss. Sie war ganz in Schwarz gekleidet und es wunderte Bettina nicht, dass sie es vorzog, nicht in der Sonne zu sitzen. Neben ihr hatte sich der Mann niedergelassen, der sie zum Tisch geführt hatte. Er beugte sich jetzt zu seiner anderen Nachbarin und flüsterte ihr etwas in Ohr, was diese leise auflachen ließ. Etwas an der Art, wie sie sich einander zuneigten, ließ Bettina denken, dass die beiden zusammengehörten, obwohl die Frau ihr sehr viel jünger zu sein schien. Sie war nicht nur ausgesprochen hübsch, in ihrem Blick lag auch etwas Offenes, geradezu Wagemutiges, so, als gäbe es für sie wenige Hindernisse, die sie nicht überwinden könnte, und ihr Lachen war herzlich und völlig ungeziert. Beide hatten, fand Bettina, etwas Fittes, durchtrainiertes so, als ob sie regelmäßig Sport trieben oder sich zumindest viel an frischer Luft bewegten. Vier weitere Personen waren um den Tisch versammelt: die Frau, die sie zurechtgewiesen hatte, neben ihr ein Mann, der Bettina ein jüngeres Abbild des älteren zu sein schien. Auch bei dem dritten und sicherlich jüngsten der Männer zeigte sich eine gewisse Ähnlichkeit. War das ein Vater mit seinen Söhnen? Der Altersunterschied war sicher nicht groß genug. Brüder vielleicht? Mit ihren Frauen oder ihren Freundinnen? Und die alte Dame könnte ihre Mutter oder vielleicht sogar die Großmutter sein? Die Partnerin des Jüngsten saß Bettina am nächsten. Sie war schön, von einer strengen Schönheit, wie man sie manchmal auf alten Bildern sah. Sie hatte klare Gesichtszüge, dunkle Augen und eine ziemlich dunkle Haut, die sie unter einer weißen Puderschicht zu verbergen suchte. Bettina, deren helle Haut zu ihrem Leidwesen in der Sonne zwar schnell rot, aber niemals richtig braun wurde, hatte dafür keinerlei Verständnis. Was hätte sie darum gegeben, einen solchen Teint zu haben? Diese Frau schien allerdings am unglücklichsten über ihr Auftauchen zu sein und konnte schließlich nicht mehr an sich halten: „Isabella!“ rief sie aus, „Ich kritisiere dich ungern, wie du weißt, aber die Art, wie du diese Törtchen in dich hineinstopfst, ist wenig appetitanregend. Wieso benutzt du nicht Messer und Gabel, wie jeder zivilisierte Mensch?“ Bettina betrachtete bestürzt ihre Fingerspitzen, die tatsächlich mit Zuckerguss und Sahne beschmiert waren. „Entschuldigung.“ murmelte sie. „Und man spricht nicht mit vollem Mund!“ „Meine Güte, Esther! So lass das Kind doch in Ruhe!“ mischte sich nun die Frau ein, die neben ihrem „Gastgeber“, wie Bettina ihn nannte, saß und sie jetzt mit ihrem offenen, wissbegierigen Blick musterte. „Wir freuen uns doch, dass du zu uns herunter gekommen bist, Isabella. Wie fühlst du dich heute?“ Bettina zuckte mit den Schultern. „Okay, denke ich. Aber ich bin nicht Isabella.“ Esther schnaubte hörbar durch die Nase, aber die Frau auf der anderen Seite des Tisches ließ sich nicht beirren. Freundlich, aber bestimmt, fragte sie weiter: „Wenn du nicht Isabella bist, wer bist du dann?“ „Das habe ich doch schon gesagt: ich heiße Bettina Wohler. Ich bin die Savignystraße lang gekommen und war total geschockt, weil ich da plötzlich dieses Haus gesehen habe. Ich habe immer gedacht, hier gibt es nur diesen großen verwilderten Garten. Aber da stand da plötzlich dieses Haus und ich war neugierig und die Tür ist auch sofort aufgegangen und dann kam diese Frau, die hat gesagt, ich soll in den Garten gehen. Und deshalb bin ich jetzt hier. So war das.“
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Das Wohlrosenhaus - Leseprobe
1. Kapitel Dateiname: BeTa.doc Kennwort: ●●●●●● Heute war ich in dem allermerkwürdigsten Haus und habe dort die seltsamsten Menschen getroffen... Das Gartentor hätte eigentlich quietschen müssen. Es war uralt, eingewachsen und verrostet. Bettina war überrascht, dass es sich überhaupt aufstoßen ließ, aber es öffnete sich, ohne dass sie hätte drücken müssen, lautlos und wie von selbst. Sie hatte den Vorgarten fast durchquert, als ihr bewusst wurde, dass sie sich tatsächlich auf fremdem Grund befand und es dafür eigentlich keine Entschuldigung gab. Das Haus jedoch lächelte ihr erwartungsvoll entgegen, und deshalb drehte sie sich nicht um, dachte nicht an Umkehr, sondern ging weiter auf das Haus zu, gespannt, was wohl passieren würde, wenn sie die Haustür erreichte. Dass in diesem Garten überhaupt ein Haus stand, hatte sie heute zum ersten Mal bewusst wahrge- nommen. Das wollte etwas heißen, denn sie hatte ihr ganzes Leben nur ein paar Straßen weiter verbracht und war sicherlich schon hundertmal hier vorbeigekommen. So wie sie sich erinnerte, hatten immer Äste alter Bäume über die Mauer gehangen und das verrostete Gartentor war, seit sie denken konnte, durch eine massive Kette und ein Schloss gesichert gewesen. Hatte man endlich die Kette abgenommen und die Bäume zurückgeschnitten? Sie sah sich um, aber der Garten schien genauso verwildert, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Als sie sich wieder dem Haus zuwandte, war ihr, als bewegte sich hinter einer Scheibe im ersten Stock eine Gardine. Als hätte jemand herausgeschaut und bei ihrem Anblick den Vorhang sofort wieder fallen lassen. ‚Nun kommt sicher gleich einer raus und meckert mich an.‘ dachte Bettina ernüchtert. ‘Dann werde ich einfach sagen, ich hätte mich in der Hausnummer geirrt… und abhauen.‘ Aber nichts geschah. Keiner kam, keiner schimpfte und das Haus selbst sah weiterhin aus, als lade es sie ein, doch näher zu treten. Es war wirklich ein schönes Haus, mit wohlausgewogenen klassischen Proportionen und einem geschwungenen Dach. Und obwohl die Spuren der Vernachlässigung unübersehbar waren, schien es in keiner Weise baufällig zu sein. Die Sprossenfenster schienen alle dicht zu sein, keine Scheibe war zerbrochen, und der Verputz war zwar im Laufe der Jahre grau geworden, es gab aber nur wenige Stelle, an denen er abgeblättert war. ‚Wenn man das renovieren könnte! Das wäre cool!‘ Bettina wusste genau, dass ein solcher Traum für alle Zeit ein Traum bleiben würde. Sie lebte mit ihrer Mutter und ihrem Opa in einer Dreizimmerwohnung, in der es so beengt zuging, dass zum Beispiel für die Benutzung des Bades verbindliche Verabredungen getroffen und dann auch eingehalten werden mussten, und sie nur dann Übernachtungsbesuch empfangen konnten, wenn der bereit war, das Bett mit einem seiner Gastgeber zu teilen. Selbst für ihren Vater, der ab und zu am Familienhorizont auf- und wieder abtauchte, gab es bei ihnen keinen Platz. Bettina hätte manchmal gern ein wenig mehr "Vater" gehabt, aber im Allgemeinen hatte sie nicht das Gefühl, zu kurz gekommen zu sein. Jedenfalls nicht mehr als jeder in ihrem Alter, wo man ganz selbstverständlich davon ausgeht, dass einem das Leben noch etwas schuldig ist. Sie hatte die Haustür erreicht, eine mächtige Holz- tür mit zwei Flügeln, deren auf Augenhöhe einge- lassenen Fensterchen so schmutzig waren, dass man dahinter nur einen hellen Schein wahrnehmen konnte. Da, wo sich bei einer modernen Tür ein Knauf mit Sicherheitsschloss befunden hätte, gab es hier eine altmodisch verzierte Klinke und darunter ein riesiges Schlüsselloch, in das nur ein ebenso riesiger Schlüssel passen würde. ‚Na, den möchte ich nicht um den Hals gehängt haben!‘ Bettina wusste, wovon sie sprach. Was hatte ihre Mutter doch gesagt, als sie ihr zum ersten Mal einen eigenen Schlüssel an einem Band über den Kopf gezogen hatte? „Damit Du ihn nicht ständig suchst, mein Träumerle!“ Sie rief sich zur Ordnung. Probeweise legte sie die Hand auf die Klinke. Mit einem Knarren, das einer so alten Türe würdig war, schwang der Türflügel sofort auf. Bettina zuckte noch nicht einmal zurück. Seit sie den Garten betreten hatte, war ihr, als ob sie hier eintreten musste, und dass zu widerstehen, einfach keinen Sinn machte. So tat sie beherzt den Schritt in die Halle, die sich über zwei Stockwerke erstreckte, und deren Helligkeit von einem prächtigen Bleiglasfenster im ersten Stock herrührte, das auf den schwarz-weißen Fliesen farbige Muster zeichneten. An der Wand befand sich eine Garderobe aus dunklem, poliertem Holz, in die ein reichlich verblichener Spiegel eingelassen war. An den Haken hingen einige Mäntel und auf einem Schuhrost standen zwei Paar Schnürstiefel. Von der Halle führte eine zentrale Treppe nach oben auf eine Galerie, von der, ebenso wie aus der Eingangshalle, mehrere Türen abgingen. Direkt ihr gegenüber öffnete sich plötzlich eine dieser Türen und eine junge Frau trat heraus. Sie trug ein langes, dunkles Kleid mit einem weißen Schürzchen und hatte ein weißes Häubchen auf dem Kopf. Sie musterte Bettina mit milder Überraschung, dann vollzog sie einen kleinen Knicks und sagte: „Oh, Fräulein Isabella! Man wartet im Garten auf Sie. Es ist bereits serviert.“ Sie öffnete die Tür noch ein Stückchen weiter und trat zur Seite, um Bettina durchzulassen. „Entschuldigung!“ Bettina war verwirrt, „Ich bin aber nicht Isabella. Ich heiße Bettina. Ich bin nur zufällig hier reingekommen. Die Tür stand nämlich offen.“ Sie deutete auf die Haustür, die sich, ohne dass sie es bemerkt hatte, lautlos hinter ihr geschlossen hatte. „Wie Sie wünschen, mein Fräulein!“ Ein bisschen schnippisch zuckte die andere mit den Schultern, deutete noch einmal einen Knicks an und verschwand dann durch eine weitere Tür, die sie hörbar hinter sich zu fallen ließ. Die Tür, auf die die junge Frau gewiesen hatte, stand immer noch offen. Neugierig betrat Bettina den dahinter liegenden altmodisch eingerichteten Salon. Zwei Sofas und einige Sessel waren im Halbrund angeordnet, an den Seiten standen wuchtige Möbel, Schränke oder Anrichten, auch hingen einige Gemälde in aufwendigen goldenen Rahmen an den Wänden. Durch die offene Terrassentür sah man in den Garten hinaus. Dieser Teil des Gartens, der von der Straße aus nicht zu sehen war, war völlig anders als der verwilderte Vorgarten. Hier war der Rasen gepflegt, Blumen und Stauden standen akkurat in ihren Beeten und Bäume spendeten dort Schatten, wo es angenehm war. Denn das Erstaunlichste war: plötzlich schien die Sonne! Der Tag war bisher eher grau und regnerisch gewesen. Die Wolken mussten sich, während sie die Halle durchquert hatte, endlich verzogen haben. Vorsichtig bewegte sich Bettina durch den Raum bis zur Terrassentür. Sie liebte Gärten, seit sie klein war. Sie hatte oft sehnsuchtsvoll durch die Zäune in anderer Leute Gärten geschaut und sich gewünscht, sie könnte einfach durch die Maschen schlüpfen und sich auf dem Gras ausstrecken. Im Schatten der Bäume stand ein Tisch, der unter einer leuchtend weißen Tischdecke nahezu verschwand, und der mit allem gedeckt schien, was zu einer Teegesellschaft gehörte. Um den Tisch herum saßen ein paar Leute, deren Kleidung Bettina ebenso altmodisch und seltsam erschien, wie die der jungen Frau, die sie hatte in den Garten schicken wollen. Diese Leute unterhielten sich, aber plötzlich bemerkte man sie und die Unterhaltung brach ab. Ein Mann erhob sich und kam direkt auf sie zu. Er war trotz des schönen Wetters formell gekleidet, er trug sogar eine Weste unter dem Jackett. Sein Alter schätzte sie auf vierzig, er war nicht sehr groß und sein Aussehen fand sie eher durchschnittlich. Was ihr jedoch sofort auffiel, waren seine leuchtenden Augen und ein selbstbewusster, aber auch verschmitzter Zug um den Mund. Er erschien ihr wie jemand, der einem durchaus Respekt einflößen könnte, aber niemals Angst. Tatsächlich lächelte der Mann herzlich, streckte ihr die Hand entgegen und sagte: „Wie schön, Isabella, dass du doch noch herunter gekommen bist. Wir haben schon begonnen, weil wir wussten, dass wir nicht auf dich warten sollen, aber du wirst feststellen, dass der Tee noch heiß ist, und es sind auch noch ein paar von den kleinen Törtchen da, die du so gern magst.“ „Ich bin nicht Isabella,“ brachte Bettina stotternd heraus. „Es tut mir leid, einfach so rein zu platzen. Ich heiße Bettina Wohler und ich bin nur hier, weil die Haustür aufstand. Das habe ich da drinnen der anderen Frau auch schon gesagt.“ Der Mann lächelte nur verständnisvoll, nahm ihren Arm und führte sie fürsorglich, aber bestimmt zu Tisch. „Hier haben wir nun eine Bettina! Bettina Wohler!“ stellte er sie mit einem Lachen in der Stimme den um den Tisch Versammelten vor. „Ach, Isabella! Was soll das nun schon wieder?“ Die Frau, die sie so ansprach, erinnerte Bettina an eine wenig beliebte Lehrerin. Sie war noch nicht alt, hatte aber bereits gewisse Züge, die sich im Alter nur noch unangenehm verstärken würden, wie eine spitze Nase und ein energisches, etwas zu grobes Kinn. Was diese Schönheitsfehler allerdings aufwog, waren ihre wunderbar dichten, schwarzen Haare, die in Bändern um ihren Kopf lagen und sich schließlich zu einer wirklichen Krone auftürmten. ‚Wenn das ihre eigenen sind,‘ dachte Bettina, ‚dann ist das die prächtigsten Haare, die ich je gesehen habe.‘ Unwillkürlich strich sie sich über den Kopf. Sie konnte wohlwollend als aschblond bezeichnet werden, sie fand ihre Haarfarbe jedoch vor allem fade. Außerdem waren ihre Haare so fein, dass es sich schlecht dafür eignete, so lang getragen zu werden, wie es angesagt war, und wie sie es auch unbedingt tragen wollte. „Nun nimm doch Platz und lass dir Tee ein- schenken!“ Dieselbe Frau wies auf einen der un- besetzten Stühle und Bettina setzte sich, weil ihr nichts Besseres einfiel, und auch ein bisschen, weil sie plötzlich richtigen Heißhunger auf Tee und Törtchen hatte. Während sie von dem Kuchenstück abbiss, hatte sie Gelegenheit, die zu studieren, die sich um den Tisch versammelt hatten. Ihr gegenüber, da, wo die Schatten am tiefsten waren, thronte eine alte, weißhaarige Dame, deren schöner, schmaler Kopf auf dem hohen Kragen zu ruhen schien, der ihren Hals eng umschloss. Sie war ganz in Schwarz gekleidet und es wunderte Bettina nicht, dass sie es vorzog, nicht in der Sonne zu sitzen. Neben ihr hatte sich der Mann niedergelassen, der sie zum Tisch geführt hatte. Er beugte sich jetzt zu seiner anderen Nachbarin und flüsterte ihr etwas in Ohr, was diese leise auflachen ließ. Etwas an der Art, wie sie sich einander zuneigten, ließ Bettina denken, dass die beiden zusammengehörten, obwohl die Frau ihr sehr viel jünger zu sein schien. Sie war nicht nur ausgesprochen hübsch, in ihrem Blick lag auch etwas Offenes, geradezu Wagemutiges, so, als gäbe es für sie wenige Hindernisse, die sie nicht überwinden könnte, und ihr Lachen war herzlich und völlig ungeziert. Beide hatten, fand Bettina, etwas Fittes, durchtrainiertes so, als ob sie regelmäßig Sport trieben oder sich zumindest viel an frischer Luft bewegten. Vier weitere Personen waren um den Tisch versammelt: die Frau, die sie zurechtgewiesen hatte, neben ihr ein Mann, der Bettina ein jüngeres Abbild des älteren zu sein schien. Auch bei dem dritten und sicherlich jüngsten der Männer zeigte sich eine gewisse Ähnlichkeit. War das ein Vater mit seinen Söhnen? Der Altersunterschied war sicher nicht groß genug. Brüder vielleicht? Mit ihren Frauen oder ihren Freundinnen? Und die alte Dame könnte ihre Mutter oder vielleicht sogar die Großmutter sein? Die Partnerin des Jüngsten saß Bettina am nächsten. Sie war schön, von einer strengen Schönheit, wie man sie manchmal auf alten Bildern sah. Sie hatte klare Gesichtszüge, dunkle Augen und eine ziemlich dunkle Haut, die sie unter einer weißen Puderschicht zu verbergen suchte. Bettina, deren helle Haut zu ihrem Leidwesen in der Sonne zwar schnell rot, aber niemals richtig braun wurde, hatte dafür keinerlei Verständnis. Was hätte sie darum gegeben, einen solchen Teint zu haben? Diese Frau schien allerdings am unglücklichsten über ihr Auftauchen zu sein und konnte schließlich nicht mehr an sich halten: „Isabella!“ rief sie aus, „Ich kritisiere dich ungern, wie du weißt, aber die Art, wie du diese Törtchen in dich hineinstopfst, ist wenig appetitanregend. Wieso benutzt du nicht Messer und Gabel, wie jeder zivilisierte Mensch?“ Bettina betrachtete bestürzt ihre Fingerspitzen, die tatsächlich mit Zuckerguss und Sahne beschmiert waren. „Entschuldigung.“ murmelte sie. „Und man spricht nicht mit vollem Mund!“ „Meine Güte, Esther! So lass das Kind doch in Ruhe!“ mischte sich nun die Frau ein, die neben ihrem „Gastgeber“, wie Bettina ihn nannte, saß und sie jetzt mit ihrem offenen, wissbegierigen Blick musterte. „Wir freuen uns doch, dass du zu uns herunter gekommen bist, Isabella. Wie fühlst du dich heute?“ Bettina zuckte mit den Schultern. „Okay, denke ich. Aber ich bin nicht Isabella.“ Esther schnaubte hörbar durch die Nase, aber die Frau auf der anderen Seite des Tisches ließ sich nicht beirren. Freundlich, aber bestimmt, fragte sie weiter: „Wenn du nicht Isabella bist, wer bist du dann?“ „Das habe ich doch schon gesagt: ich heiße Bettina Wohler. Ich bin die Savignystraße lang gekommen und war total geschockt, weil ich da plötzlich dieses Haus gesehen habe. Ich habe immer gedacht, hier gibt es nur diesen großen verwilderten Garten. Aber da stand da plötzlich dieses Haus und ich war neugierig und die Tür ist auch sofort aufgegangen und dann kam diese Frau, die hat gesagt, ich soll in den Garten gehen. Und deshalb bin ich jetzt hier. So war das.“